Stufen der Partizipation

Zusammenarbeit ist ein Entwicklungsprozess

Unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus unseren Forschungsprojekten und in Anlehnung an die Arbeit von Sherry Arnstein entstand ein Stufenmodell. Dieses ermöglicht es, partizipative Prozesse in der Gesundheitsförderung und Prävention näher zu beschreiben. Beispielsweise können Projektanbieter*innen das Modell anwenden, um den Grad der in ihrer Arbeit erreichten Partizipation einzuschätzen und Möglichkeiten zur Steigerung der Partizipation zu entwickeln (Kreise der Entscheidung).

Nach unserem Verständnis ist Partizipation keine Entweder/Oder-Option, sondern ein Entwicklungsprozess. In vielen Zusammenhängen müssen zunächst Vorstufen der Partizipation realisiert werden, bevor eine direkte Beteiligung an Entscheidungsprozessen möglich ist. Zahlreiche Maßnahmen halten sich zwar für partizipativ, bieten aber keine Möglichkeit für eine Beeinflussung der Entscheidungsprozesse und sind daher nicht als partizipativ einzustufen.

Stufe 9SelbstorganisationGeht über Partizipation hinaus
Stufe 8EntscheidungsmachtPartizipation
Stufe 7Teilweise Entscheidungskompetenz
Stufe 6Mitbestimmung
Stufe 5EinbeziehungVorstufen der Partizipation
Stufe 4Anhörung
Stufe 3Information
Stufe 2AnweisungNicht-Partizipation

Auf der Ebene der Nicht-Partizipation gibt es verschiedene Varianten. Hier werden zwei Ausprägungen beschrieben, die in der Gesundheitsförderung und Prävention oft anzutreffen sind: Instrumentalisierung und Anweisung.

Stufe 1: Instrumentalisierung
Die Belange der Schlüsselgruppe spielen keine Rolle. Entscheidungen werden außerhalb der Schlüsselgruppe getroffen, und die Interessen dieser Entscheidungsträger*innen stehen im Mittelpunkt. Schlüsselgruppenmitglieder nehmen eventuell an Veranstaltungen teil, ohne deren Ziel und Zweck zu kennen (Schlüsselgruppenmitglieder als "Dekoration").

Beispiele:
Nur die Bewohner*innen eines Stadtviertels, die die Ansichten der Entscheidungsträger*innen vertreten, werden nach ihrer Meinung gefragt. Das Ergebnis der Befragung wird als Meinung aller Bewohner*innen des Stadtviertels dargestellt. Kleine Kinder werden auf politischen Demonstrationen eingesetzt, um elterliche Positionen zu transportieren, ohne selbst zu verstehen, worum es bei der Veranstaltung geht.

Stufe 2: Anweisung
Entscheidungsträger*innen (oft ausgebildete Fachkräfte) nehmen die Lage der Schlüsselgruppe wahr. Ausschließlich auf Grundlage der (fachlichen) Meinung der Entscheidungsträger*innen werden die Probleme der Schlüsselgruppe definiert und Vorgänge zur Beseitigung oder Linderung der Probleme festgelegt. Die Meinung der Schlüsselgruppe zu ihrer eigenen Situation wird nicht berücksichtigt. Die Kommunikation seitens der Entscheidungsträger*innen ist direktiv.

Beispiele:
Viele herkömmliche Formen der medizinischen, psychotherapeutischen, pädagogischen und sozialarbeiterischen Beratung und Behandlung sind dadurch geprägt, dass Fachkräfte die alleinige Verantwortung für die Definition (Diagnose) des Problems und deren Beseitigung tragen. Professionell bestimmte Interventionen in diesem Sinne sind oft notwendig, z.B. im Fall einer akuten Gefahr (Krankheit, Kindesmissbrauch) oder im Fall eingeschränkter Möglichkeiten seitens des*der Betroffenen (z.B. auf Grund geistiger Behinderungen, begrenzter Entscheidungskompetenzen bei jungen Kindern oder situationsspezifischer Einschränkungen in Krisensituationen).


Bei den Vorstufen der Partizipation handelt es sich um eine zunehmend starke Einbindung der Schlüsselgruppe in Entscheidungsprozesse, auch wenn (noch) kein direkter Einfluss auf die Prozesse möglich ist: Information, Anhörung und Einbeziehung

Stufe 3: Information
Die Entscheidungsträger*innen teilen der Schlüsselgruppe mit, welche Probleme die Gruppe (aus Sicht der Entscheidungsträger*innen) hat und welche Hilfe sie benötigt: Verschiedene Handlungsmöglichkeiten werden der Schlüsselgruppe für die Beseitigung oder Linderung ihrer Probleme empfohlen. Das Vorgehen der Entscheidungsträger*innen wird erklärt und begründet. Die Sichtweise der Schlüsselgruppe wird berücksichtigt, um die Akzeptanz der Informationsangebote und die Aufnahme der Botschaften zu fördern.

Beispiel:
Herkömmliche Aufklärungsarbeit fällt in der Regel unter diese Kategorie. So steht zum Beispiel die Mitteilung von Informationen, Kampagnen oder Veranstaltungen, die von Expert*innen aufbereitet und vorgestellt werden, im Vordergrund.

Stufe 4: Anhörung
Die Entscheidungsträger*innen interessieren sich für die Sichtweise der Schlüsselgruppe auf ihre eigene Lage. Die Mitglieder der Schlüsselgruppe werden angehört, haben jedoch keine Kontrolle darüber, ob ihre Sichtweise Beachtung findet.

Beispiel:
Die am häufigsten verwendete Form der Anhörung in der Praxis der Gesundheitsförderung und Prävention ist die Befragung. Ob schriftlich oder mündlich, im Einzel- oder im Gruppengespräch geht es darum, die Situation der Schlüsselgruppe in Erfahrung zu bringen. In der Regel werden die Berichte der einzelnen Personen oder Gruppen anonymisiert und mit den Aussagen von anderen zusammengetragen, um sich ein Bild über die Situation der Schlüsselgruppe zu verschaffen.

Stufe 5: Einbeziehung
Die Einrichtung lässt sich von ausgewählten Personen aus der Schlüsselgruppe (oft Personen, die den Entscheidungsträger*innen nahe stehen) beraten. Die Beratungen haben jedoch keinen verbindlichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess.

Beispiel:
Bei der Überlegung zur Errichtung eines neuen Angebots nimmt eine Einrichtung Kontakt zu einer Migrant*innenorganisation auf, um sich näher über die Situation der jungen Frauen aus dem entsprechenden Kulturkreis zu informieren. Eine Vertreterin aus einer Selbsthilfegruppe für allein erziehende Mütter wird zu einer Vorstandsitzung eingeladen, um den Hilfebedarf der Frauen in ihrer Situation zu schildern.


Bei der "echten" Partizipation hat die Schlüsselgruppe eine formale, verbindliche Rolle in der Entscheidungsfindung: Mitbestimmung, teilweise Übertragung von Entscheidungskompetenz und Entscheidungsmacht.

Stufe 6: Mitbestimmung
Die Entscheidungsträger*innen halten Rücksprache mit Vertreter*innen der Schlüsselgruppe, um wesentliche Aspekte einer Maßnahme mit ihnen abzustimmen. Es kann zu Verhandlungen zwischen der Schlüsselgruppenvertretung und den Entscheidungsträger*innen zu wichtigen Fragen kommen. Die Schlüsselgruppenmitglieder haben ein Mitspracherecht, jedoch keine alleinigen Entscheidungsbefugnisse.

Beispiel:
Die Mitgliedschaft von Vertreter*innen aus der Schlüsselgruppe in Entscheidungsgremien (Vorstand, Beirat, Steuerungsgruppe) ist ein Beispiel der Mitbestimmung. Die Errichtung eines Nutzerbeirats, der ausschließlich aus Mitgliedern der Schlüsselgruppe besteht, ist eine andere Form der Mitbestimmung. Formale Kooperationen mit Organisationen, die die Interessen der Schlüsselgruppe vertreten, kann auch eine Mitbestimmung der Schlüsselgruppe ermöglichen.

Stufe 7: Teilweise Übertragung von Entscheidungskompetenz
Ein Beteiligungsrecht stellt sicher, dass die Schlüsselgruppe bestimmte Aspekte einer Maßnahme selbst bestimmen kann. Die Verantwortung für die Maßnahme liegt jedoch in den Händen von anderen, z.B. bei Mitarbeiter*innen einer Einrichtung.

Beispiele: Eine Einrichtung will einen Aufklärungsfilm für Jugendliche zum Thema Sexualität entwickeln und beauftragt eine Gruppe von Jugendlichen mit der inhaltlichen Gestaltung des Films. Eine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen aus der Schlüsselgruppe wird gebildet, deren Aufgabe es ist, neue Angebote für die Schlüsselgruppe zu entwickeln und umzusetzen (Peer-Ansatz). Zum Beispiel: Frauen in der Prostitution werden organisiert, um andere Frauen zum Thema sexuell übertragbare Krankheiten aufzuklären. Die ehrenamtlich arbeitenden Frauen bestimmen, wie sie dieses Ziel am besten erreichen und bekommen von der Einrichtung Unterstützung, um ihre Ideen umzusetzen.

Stufe 8: Entscheidungsmacht
Die Schlüsselgruppenmitglieder bestimmen alle wesentlichen Aspekte einer Maßnahme selbst. Dies geschieht im Rahmen einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einer Einrichtung oder anderen Akteuren. Andere außerhalb der Schlüsselgruppe sind an wesentlichen Entscheidungen beteiligt, sie spielen jedoch keine bestimmende, sondern eine begleitende oder unterstützende Rolle.

Beispiele:
Ein Nutzerbeirat in einer Einrichtung regt ein neues Angebot für die Schlüsselgruppe an und übernimmt die Verantwortung für seine Planung und Durchführung. Frauen in einem Wohnviertel haben das Anliegen, einen Kochkurs zu organisieren und bekommen hierfür eine Küche von einer Einrichtung zur Verfügung gestellt. Eine Migrant*innenorganisation nimmt Kontakt zu einer AIDS-Hilfe auf, um Unterstützung bei der Gestaltung von Aufklärungsveranstaltungen in Moscheen zu bekommen.


Die letzte Stufe des Modells geht über die Partizipation hinaus. Sie umfasst alle Formen selbst organisierter Maßnahmen, die nicht unbedingt als Folge eines partizipativen Entwicklungsprozesses entstehen, sondern von Anfang an von Bürger*innen selbst initiiert werden können.

Stufe 9: Selbstorganisation
Eine Maßnahme bzw. ein Projekt wird von Mitgliedern der Schlüsselgruppe selbst initiiert und durchgeführt. Häufig entsteht die Eigeninitiative aus eigener Betroffenheit. Die Entscheidungen trifft die Schlüsselgruppe eigenständig und eigenverantwortlich. Die Verantwortung für die Maßnahme liegt bei der Schlüsselgruppe. Alle Entscheidungsträger sind Mitglieder der Schlüsselgruppe.

Beispiele:
Diese Stufe schließt alle Formen von Initiativen, die von Menschen aus der Schlüsselgruppe selbst konzipiert und durchgeführt werden, ein. Diese können formell (z.B. als Verein) oder informell als (spontane) Aktion von Gleichgesinnten organisiert werden.

Autor*nnen:
Wright/Block/Unger